Parteiwandel vor Ort: Die Enttraditionalisierung der britischen und deutschen Sozialdemokratie aus mikrohistorischer Perspektive (Teiluntersuchung 1)

Das Forschungsprojekt „Parteiwandel vor Ort“ ist in zwei Teiluntersuchungen gegliedert. Die erste Teiluntersuchung von Timo Kupitz hat den Titel „Von Erdrutsch zu Erdrutsch: Studien zur politischen Arbeit der British Labour Party zwischen 1983 und 1997″ fragt nach den veränderten Strategien zur Machterlangung und des Machterhalts der Labour Party während deren langen Oppositionsphase in dem genannten Zeitraum der „Wilderness Years“.

Die 1970er Jahre brachten mit ihren verschiedenartigen Strukturbrüchen durch verschiedene Krisen und deren Ausdrücken (von Bretton Woods über die Ölkrisen bis hin zu kulturellen Eigenarten der No-Future Diskurse) sowie den ersten als einschneidend empfundenen Erlebnissen eines deindustrialisierenden Strukturwandels als langfristig wirksame Variable, die bisherigen auf allgemeinen und vor allem überparteilichen Konsens gegründeten ökonomischen Produktionsregime und soziale Sicherungssysteme der westeuropäischen Staaten ins Wanken. Der sich nun als quantitativer Niedergang der alten Arbeiterklasse und Aufbau einer breiten Mittelschicht (Service Class) beschleunigt abzeichnende Wandel der ökonomischen Basis prägte den politischen Überbau dergestalt, dass die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, unter anderem die British Labour Party, während der 1980er und 1990er Jahren Wahl um Wahl verloren. Sie durchlebten eine fast schon systemisch bedingt anmutende Oppositionsphase. Dabei änderten sich nicht nur ökonomische Faktoren. Vielmehr verorteten sich in diesen „Jahre[n] nach dem Boom“ (Lutz Raphael) viele neue Diskurse samt deren ganz realen Auswirkungen im öffentlichen wie privaten Raum. Themen der Geschlechtergerechtigkeit, der Migration, neuer sozialer Lebensformen, der Umgang mit den sich rapide entwickelnden neuen Technologien oder mannigfaltigen Diversitäten sexueller Entfaltung, die sich alle im Kontext einer Individualisierung und Entsolidarisierung von Einheiten im sozialen Raum überlagerten, ergänzten und widersprachen, kamen auf die politische Agenda oder erhielten zumindest eine zunehmende Brisanz.

In diesen, einerseits durch strukturell-ökonomischen Probleme, andererseits durch neue politische Themen geprägten Jahrzehnten der 1980er und 1990er musste die Labour Party ihre bisherige Politik einer Prüfung unterziehen und, da politisches Kapital (Pierre Bourdieu) in erster Linie aus Wahlerfolgen erwächst, im politischen Feld ihrem Niedergang in die politische Bedeutungslosigkeit durch Rekonstruktion dessen, wofür Sozialdemokratie steht, entgegenwirken. Obgleich sie sich seit 1987 von Wahl zu Wahl verbessern konnte, schaffte es erst Tony Blair 1997 die Partei wieder zu einem erdrutschartigen Wahlerfolg zu führen.

Das Forschungsprojekt untersucht das Verhältnis von Labour Party und verschiedenen (potentiellen) Wählergruppen in ebenjenem Zeitraum. Dazu wird mikrohistorisch der Blick auf ein besonders problematisches Viertel der britischen Hauptstadt geworfen: Das Londoner East End bietet sich an, da hier verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie alte Arbeiterklasse, neue Middle Class und Migranten in ihrem Lebensalltag aufeinandertreffen und vorwiegend um öffentliche Güter konkurrieren. Die Labour Party selbst musste, zunehmend unter dem Druck der nationalen wie auch kommunalen politischen Misserfolge, zwischen diesen verschiedenen Interessenslagen und Loyalitäten vermitteln, was ihr, betrachtet man die folgenden Wahlergebnisse, mit wechselndem Erfolg gelang.

Dabei baut das Forschungsprojekt vorwiegend auf der Kapital- und Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu auf. Seine Ausführung zum politischen Feld sind Grundlage einer eigenständig entwickelten Theorie der politischen Arbeit zur Akkumulation von Vertrauen/politischem Kapital, welche die Handlungsweisen sowohl der individuellen (bspw. Kandidaten) als auch der kollektiven (z.B. Parteien) Akteure leitet.